Harmonisierung von Materialien und Produkten im Kontakt mit Trinkwasser in Europa
Die europäische Trinkwasserrichtlinie wurde in den letzten Jahren überarbeitet und ist am 12. Januar 2021 in Kraft getreten:
Standards für Produkte im Kontakt mit Trinkwasser
Seit den 80er Jahren steht die europäische Standardisierung von Produkten im Kontakt mit Trinkwasser auf der Tagesordnung. Heute sind bereits fast alle Produkte in gemeinsamen europäischen Standards (EN) beschrieben.
Der wichtige Aspekt der hygienischen Tauglichkeit für den Kontakt mit Trinkwasser und die damit zusammenhängenden Anforderungen fehlen jedoch noch.
Fehlende Harmonisierung wirkt dem Grundsatz des freien Warenverkehrs entgegen
In der europäischen Verordnung Nr. 764/2008 über den freien Warenverkehr heißt es, dass "ein Mitgliedstaat den Verkauf von Produkten, die rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat vermarktet werden, auf seinem Hoheitsgebiet nicht verbieten darf, auch wenn diese Produkte gemäß technischen Regeln, die sich von denen unterscheiden, denen heimische Produkte unterliegen ".
Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jedoch für Fragen zulässig, die auf der Grundlage übergeordneter Gründe von öffentlichem Interesse gerechtfertigt sind. Dazu gehört der "Schutz der Gesundheit und des Lebens des Menschen", der jedem einzelnen europäischen Land eine mögliche Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung der eigenen Anforderungen an Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser bietet.
Einheitliche hygienische Prüfanforderungen in Europa werden nun umgesetzt
Die EU gibt mit der europäischen Trinkwasserrichtlinie (Drinking Water Directive, DWD) den gesetzlichen Rahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit vor. So auch in Bezug auf Werkstoffe und Materialien, die mit Trinkwasser in Berührung kommen.
So verpflichtet der neue Artikel 11 der EU-TrinkwasserRL "Mindesthygieneanforderungen für Materialien und Werkstoffe, die mit Wasser für den menschlichen Gebrauch in Berührung kommen" die EU-Mitgliedsstaaten zur Erstellung von europäischen Positivlisten und zur Überwachung der verwendeten Stoffe oder Materialien im Kontakt mit Trinkwasser:
"(1) Für die Zwecke des Artikels 4 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Materialien und Werkstoffe, die für die Verwendung in Neuanlagen oder — im Fall von Reparatur- oder Sanierungsmaßnahmen — in bereits bestehenden Anlagen zur Entnahme, Aufbereitung, Speicherung oder Verteilung von Wasser für den menschlichen Gebrauch vorgesehen sind und mit diesem Wasser in Berührung kommen,
a) den durch die vorliegende Richtlinie vorgesehenen Schutz der menschlichen Gesundheit weder direkt noch indirekt gefährden;
b) die Färbung, den Geruch oder den Geschmack des Wassers nicht beeinträchtigen;
c) nicht die Vermehrung von Mikroorganismen fördern;
d) nicht dazu führen, dass Kontaminanten in höheren Konzentrationen als aufgrund des mit dem Material oder Werkstoff verfolgten Zwecks unbedingt nötig in das Wasser gelangen.
(2) Um sicherzustellen, dass Absatz 1 einheitlich zur Anwendung kommt, erlässt die Kommission Durchführungsrechtsakte, um die spezifischen Mindesthygieneanforderungen für Materialien und Werkstoffe, die mit Wasser für den menschlichen Gebrauch in Berührung kommen, auf der Grundlage der in Anhang V festgelegten Grundsätze festzulegen. (...) "
Hohe Kosten für hygienische Prüfungen von Materialien und Produkten
Das Fehlen von einheitlichen hygienischen Prüfanforderungen in Europa für Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser ist ineffizient und teuer.
Die Kosten der fehlenden Harmonisierung wirken sich besonders auf Innovation und Wettbewerbsfähigkeit aus. Die Einführung neuer Produkte wird verlangsamt, die finanzielle Belastung für kleinere und mittlere Unternehmen ist extrem hoch.
Um dies mit konkreten Zahlen zu hinterlegen, hat die figawa eine Befragung in ihrer Mitgliedschaft durchgeführt und eine hierauf basierende Studie erstellt. Diese zeigt unter anderem, dass 43% der Hygienetests für ein einzelnes Produkt in Deutschland 7 – 12 Monate benötigen. Diese Zeitspanne wird noch länger, wenn die Tests in anderen EU-Mitgliedsstaaten erneut durchgeführt werden müssen, denn eine gegenseitige Anerkennung von Prüfungen existiert nicht.
Diese Ergebnisse sind in die, von der EU Kommission in Auftrag gegebene, Studie „Support to the implementation and further development of the Drinking Water Directive (98/83/EC): Study on materials in contact with drinking water“ eingeflossen.
So liegen allein die Kosten für die hygienische Prüfung eines Rohrsystems (Rohr und Fitting) in 4 europäischen Ländern aufaddiert bei bis zu 30.000 Euro. Die europäischen externen Prüfkosten für nationale Produktprüfungen werden auf 100 Millionen Euro jährlich geschätzt, ohne die internen Kosten der Hersteller hinzuzufügen. Insgesamt wird geschätzt, dass die jährlichen Kosten für Prüfungen und Zertifizierungen bzw. Zulassungen 282 Millionen EUR in Europa betragen.
Andere Initiativen zur Regelung der fehlenden Harmonisierung
2011 erteilte die EU-Kommission den EU-Normungsgremien (CEN/CENELEC) ein Mandat (M/136), um einheitliche europäische Standards zumindest für Bauprodukte im Kontakt mit Trinkwasser festzulegen.
Parallel hierzu einigten sich die Mitgliedsstaaten Frankreich, Niederlande, das Vereinigte Königreich und Deutschland einen gemeinsamen freiwilligen Ansatz für die Prüfung und Bewertung von Materialien und Produkten im Kontakt mit Trinkwasser zu erarbeiten. Diese Initiative ist unter dem Begriff „4 MS“ bekannt.
→ Informationen zur 4MS-Initiative
Gründung der Industrieinitiative „European Drinking Water“
Zur Unterstützung der 4MS-Arbeiten wurde unter Federführung des seit 2014 laufenden figawa-Projektes „One standard, one test, accepted everywhere in Eruope“, im Jahr 2015 ein Bündnis von europäischen Industrieverbänden unter dem Namen „European Drinking Water“ (EDW) gegründet.
Die Mitgliedsverbände vertreten Hersteller und Lieferanten von Produkten im Kontakt mit Trinkwasser. Hierzu gehört die Rohr-, Pumpen-, Ventil-, Sanitär-, Zähler-, Dichtungs-, Speicher-, Heizungs-, Wasseraufbereitung -und Getränkespender-Industrie, und somit die gesamte Lieferkette der Branche von den Rohstofflieferungen bis zur Entnahmearmatur beim Verbraucher.
Ziel der Initiative:
→ Ein EU-weit harmonisiertes System für Anforderungen und Konformitätsbewertung von Produkten und Materialien, das in allen EU-Mitgliedstaaten akzeptiert wird.
Dieses Ziel wurde bereits über mehrere Positionspapiere formuliert und in die Arbeit der EU-Kommission und des EU-Parlaments eingebracht.
Die Kernforderungen von EDW lauten:
Die EU-Gesetzgebung soll
- es den EU-Institutionen ermöglichen, rechtsverbindliche Maßnahmen zu ergreifen, um die hygienischen Anforderungen an Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser weiter zu harmonisieren, einschließlich der schrittweisen Entwicklung einer EU-weiten Liste von Stoffen, die für die Herstellung von Materialien, die mit Trinkwasser in Berührung kommen.
Dieser Ansatz würde gewährleisten, dass die gleichen Sicherheitsstandards für alle europäischen Verbraucher gelten und sicherstellen, dass alle Produkte – unabhängig davon, ob Sie in den Geltungsbereich der CPR fallen-durch harmonisierte Hygienevorschriften abgedeckt werden
- sicherstellen, dass das Endziel der Trinkwasser-Politik der EU die Entwicklung eines vollständig harmonisierten Regelungsrahmens für Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser ist.
- die Kohärenz zwischen der Trinkwasserrichtlinie und der Bauproduktenverordnung (CPR) gewährleisten. Dies setzt voraus, dass die im Rahmen der CPR entwickelten harmonisierten Standards einen Hinweis auf die rechtsverbindlichen Maßnahmen geben, die von der Kommission unter der DWD entwickelt wurden. Dadurch könnten Produkte, die mit Trinkwasser in Berührung kommen und die EU-weiten hygienischen Anforderungen des DWD erfüllen, in der gesamten EU vermarktet werden.
- ein Schlupfloch im Harmonisierungsprozess schließen. Um dies zu erreichen, sollte die Trinkwasserrichtlinie die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen und nachdrücklich ermutigen, die europäischen harmonisierten Standards auch auf Produkte anzuwenden, die von der CPR nicht nur zu Trinkwasser Zwecken abgedeckt sind.
Revision der EU-Trinkwasserrichtlinie bietet Chance der Harmonisierung
Durch die intensive Arbeit auf europäischer und nationaler Ebene konnte 2021 ein Meilenstein in Richtung einer Harmonisierung der hygienischen Anforderungen an Materialien im Kontakt mit Trinkwasser erreicht werden.
Basierend auf der Finanzierung der projektunterstützenden Unternehmen und Partnerverbände des figawa-Projektes der vergangenen Jahre und über die Bündelung der Branche in der europäischen Industrieinitiative „European Drinking Water“, konnte die EU-Kommission dazu bewegt werden, die Harmonisierung der hygienischen Anforderungen an Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser im Entwurf zur Neuordnung der EU-Trinkwasserrichtlinie zu berücksichtigen.
Und das obwohl im ersten Entwurf der Neuordnung der EU-Trinkwasserrichtlinie vom 1. Februar 2018 der Artikel 10 lediglich gestrichen wurde ohne die Fragen rund um Materialien und Produkte im Kontakt mit Trinkwasser zu konkretisieren. Dies deutete darauf hin, dass die hygienischen Anforderungen im Rahmen der Bauproduktenverordnung (CPR) festgelegt werden sollten. Dies hätte jedoch dazu geführt, dass nicht alle betroffenen Produkte geregelt werden. Denn einige Produkte, wie Trinkwassererwärmer, Wasserzähler, Pumpen und Haushaltsgeräte, fallen nicht unter die CPR.
Aber in der ersten Lesung des europäischen Parlaments im Oktober 2018 wurden dann folgende Punkte vom EU-Parlament zusätzlich zum Entwurf der Kommission implementiert:
- Neuer Artikel 10a in dem Mindesthygieneanforderungen an Produkte, Substanzen und Materialien festgelegt werden.
- Substanzen und Materialien im Kontakt mit Trinkwasser dürfen nicht die menschliche Gesundheit gefährden, den Geruch und Geschmack des Trinkwassers beeinträchtigen, mikrobiologisches Wachstum fördern und nicht in höheren Konzentrationen im Trinkwasser vorhanden als für deren Zweck unbedingt notwendig.
- Die EU Kommission wird aufgefordert im Rechtsrahmen der Trinkwasser-Richtlinie delegierte Rechtsakte zu erlassen um Mindesthygieneanforderungen festzulegen und Positivlisten für Substanzen zu erstellen aus denen Materialien im Kontakt mit Trinkwasser hergestellt werden.
- Klausel zur Überprüfung ob ein ausreichendes Maß an Harmonisierung erreicht werden konnte.
Der Standpunkt des Parlaments hinsichtlich Materialien und Produkten im Kontakt mit Trinkwasser stellt eine wesentliche Verbesserung zum Entwurf der Kommission dar.
In den Konsultationen des Rates der EU im März 2019 wurden die Vorschläge des EU-Parlaments aufgenommen und konkretisiert:
- Zur einheitlichen Anwendung sollen spezifische Mindesthygieneanforderungen für Materialien nun durch Durchführungsrechtsakte geregelt werden.
Diese beinhalten die Erstellung von regelmäßig überprüften und aktualisierten europäischen Positivlisten sowie gemeinsame Test- und Auswahlverfahren für- Endmaterialien die aus diesen Substanzen hergestellt werden deren Testmethoden auf EN-Normen beruhen
- Substanzen die auf (für die jeweiligen Materialgruppe spezifischen) den europäischen Positivlisten geführt werden und die für die Herstellung von Materialien zugelassen sind sowie
- Alle Produkte im Kontakt mit Trinkwasser (harmonisiert und nicht harmonisiert) müssen den Anforderungen der Trinkwasser-Richtlinie entsprechen. Um die einheitliche Überprüfung zu erleichtern kann die EU Kommission hierfür die Erarbeitung einer entsprechenden Norm beauftragen.
- Die Einrichtung eines Kennzeichnungssystems für Produkte die den Anforderungen entsprechen, soll ebenfalls mittels Durchführungsrechtsakt geregelt werden.
Die neue EU-Trinkwasserrichtlinie
Während der sogenannten Trilog-Verhandlungen konnten sich EU-Parlament, EU-Kommission und der Rat der europäischen Union einigen.
Die neue EU-Trinkwasserrichtlinie wurde am 15. Dezember 2020 vom EU-Parlament final verabschiedet und trat am 12. Januar 2021 in Kraft.
Die neue Richtlinie bringt eine Vielzahl von Änderungen mit sich:
- Neue und zum Teil verschärfte Grenzwerte für z.B. Blei, Legionellen, Chlorat und Bisphenol A. Andere neue Parameter wie z.B. Mikroplastik werden derzeit lediglich mit Richtwerten in einer Watchlist geführt.
- Der bisher nur empfohlene risikobasierte Ansatz für die Überwachung des Wassers (Risikobewertung) wird verpflichtend eingeführt. Die Überwachung gilt von der Gewinnung über die Aufbereitung bis hin zur Hausinstallation.
- Erstmalig werden einheitliche Anforderungen an Materialien im Kontakt mit Trinkwasser gestellt. Für die einheitliche Umsetzung werden die spezifischen Mindesthygieneanforderungen für Materialien durch Durchführungsrechtsakte geregelt. Innerhalb von drei Jahren werden Stoffe oder Materialien sowie Test- und Auswahlverfahren für Ausgangsstoffe und -verbindungen in einer „europäischen Positivliste“ aufgenommen.
- Des Weiteren wird es Neuregelungen zu Wasserverlusten, den Abweichungen von den Qualitätsparametern und dem öffentlichen Zugang zu Trinkwasser geben.